Housing First: Obdachlosigkeit überwinden
Im Interview Corinna Müncho, Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Housing First. Foto: BUWOG / Torsten Hahn
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Housing First: Obdachlosigkeit überwinden

Wohnen ist ein gesellschaftspolitisches Thema und Wohnungslosigkeit eine vielschichtige Problematik. In der Europäischen Union soll die Obdachlosigkeit bis 2030 überwunden werden. Housing First ist dafür ein vielversprechender Ansatz – auch für die Bundesregierung. Im Interview: Corinna Müncho vom Bundesverband Housing First e.V. und Bundesministerin Klara Geywitz.

 

Niemand mehr ohne Wohnung: Das ist keine Fiktion, sondern ein konkretes Ziel, auf das sich die Europäische Union bis zum Jahr 2030 verständigt hat. Denn die Situation ist problematisch: Laut dem europäischen Dachverband der Wohnungslosenhilfe waren im Jahr 2023 mindestens 895.000 Menschen ohne Wohnung. Wohnungslosigkeit kann jeden treffen. Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen und aus unterschiedlichsten Gründen.

 

Um die Obdachlosigkeit dauerhaft erfolgreich zu bekämpfen, will die EU-Kommission einen EU-Rahmen für nationale Strategien und daraus abgeleitete konkrete Maßnahmen vorschlagen. Die Mitgliedsstaaten sollen sich – so das Votum des EU-Parlaments aus 2020 – auch den Grundsatz „Housing First“ zu eigen machen, mit dem ein erheblicher Beitrag zur Senkung der Obdachlosenquote geleistet werden kann.

 

In der aktuellen Folge von „Glücklich wohnen – der BUWOG Podcast“ ist Corinna Müncho zu Gast, Vorstandsmitglied des Bundesverbands Housing First e. V. Darüber hinaus hatten wir die Gelegenheit, auch mit Bundesministerin Klara Geywitz über die Relevanz und Umsetzung von Housing First zu sprechen. Denn in Umsetzung der europaweiten Zielsetzung hat sich auch die Bundesregierung bei diesem Thema auf den Weg gemacht. 

Maßnahmen zur Überwindung von Wohnungslosigkeit 

Housing First ist ein innovativer Ansatz zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit, der weltweit Anerkennung findet. Housing First konzentriert sich darauf, den sofortigen Zugang zu stabilem Wohnraum zu gewährleisten. „Wohnraum ist ein Menschenrecht“, unterstreicht Corinna Müncho. Dieser Ansatz basiert auf der Überzeugung, dass ein sicherer Wohnraum die essenzielle Grundlage für die Bewältigung weiterer sozialer und gesundheitlicher Herausforderungen bildet. Durch die Bereitstellung eines festen Zuhauses können Betroffene leichter Unterstützung in anderen Lebensbereichen erhalten und so eine nachhaltige Verbesserung ihrer Lebenssituation erreichen.

Housing First: Wohnraum ist nur der Anfang 

Housing First konzentriert sich auf obdachlose Menschen, die häufig mit weiteren Problemen und Belastungen kämpfen, z. B. Suchtproblematiken, Überschuldungsprobleme, gesundheitliche und/oder psychosozialen Problemen. Der sozialpolitische Ansatz aus den USA, wo er seit gut 30 Jahren erfolgreich erprobt ist, sieht vor, diesen Menschen sofort eine eigene Wohnung anzubieten, ohne dass sie zuvor bestimmte Bedingungen erfüllen oder sonstige Hürden überwinden müssen. So ist die eigene Wohnung – ob privat oder von einem kommunalen Wohnungsunternehmen vermietet oder eine andere Wohnform etwa in einem Wohnprojekt – der erste Schritt in ein neues Leben.

 

Eine Wohnung ist für viele ein erster Anfang. Foto: Haus Strohhalm
Wohnraum ist für viele ein erster Anfang. Foto: Haus Strohhalm

Die BUWOG hat sich z.B. mit der Realisierung des Sozialprojektes „Strohhalm“ im Wohnquartier BUWOG WOHNWERK engagiert. Die Einrichtung im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick bietet Wohnungs- und Obdachlosen temporären Wohnraum, aber auch Angebote wie eine Kleiderkammer, Wasch- und Versorgungsmöglichkeiten sowie ergänzende psychosoziale Unterstützung.

 

„Housing First heißt aber nicht Housing only“, stellt Corinna Müncho im Interview klar. Denn eine mithin engmaschige Begleitung der Klientel ist wichtig, um die weiteren Themen Schritt für Schritt anzugehen und im besten Fall zu lösen. „Es reicht nicht aus, nur eine Wohnung bereitzustellen. Das ‚Second‘ umfasst ein umfassendes Betreuungsangebot.“ Diese Betreuung ist nach Corinna Münchos Erfahrung entscheidend für den nachhaltigen Erfolg von Housing First.

Die Programme orientieren sich an den Prinzipien des Housing First Europe Guides. Der Fokus liegt darauf, Freiwilligkeit und Autonomie zu wahren und eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Die Gewöhnungsphase der Menschen von der Obdachlosigkeit zu einem festen Wohnumfeld ist in der Praxis sehr individuell und unterliegt durchaus verschiedenen Schwankungen, beschreibt die Expertin. Daher kann manchmal eine intensive Unterstützung mit mehreren wöchentlichen Terminen notwendig sein.

Klara Geywitz: Housing First nachhaltig erfolgreich 

Auch Klara Geywitz, Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, setzt auf das Thema Housing First, wie sie im BUWOG-Podcast verdeutlicht. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen dauerhaft ihre Obdachlosigkeit überwinden können, steigt durch Housing First erheblich“, erklärt Klara Geywitz. Für den nachhaltigen Erfolg von Housing First seien der Bau neuer Wohnungen und die Schaffung zusätzlicher Sozialwohnungen entscheidend sowie vor allem die koordinierte und umfassende Strategie aller beteiligten Akteure. Hier müssten konkret verschiedene Bundesministerien, die Länder und die Kommunen allesamt zusammenarbeiten, so Geywitz. Die Ministerin unterstreicht im BUWOG-Podcast, dass die angestrebte Überwindung von Obdachlosigkeit bis 2030 also viele koordinierte Ansätze erfordert, um langfristige Lösungen zu gewährleisten. Einen (ersten) Rahmen für das gemeinsame Verständnis bietet der gerade erschienene Nationale Aktionsplan zur Überwindung der Wohnungslosigkeit.

Hürden bei der Implementierung 

Keine Wohnungslosigkeit mehr ab 2030: Soll dieses Ziel gelingen, ist nicht nur die Politik gefragt, sondern auch die Zivilgesellschaft und Wirtschaft als Teil der Lösung. Große Immobilienunternehmen wie z.B. auch der BUWOG-Mutterkonzern Vonovia kooperieren bereits vielfach auf lokaler Ebene mit Housing First, berichtet Corinna Müncho. Zentrales Problem ist die Bereitstellung ausreichender Wohnraumkapazitäten. Und in vielen Städten und Gemeinden mangelt es an bezahlbarem Wohnraum, was die Umsetzung von Housing First erschwert. Ein weiteres Hindernis ist aber schlicht die Finanzierung der Programme, die eben nicht nur Miete und Unterhalt der Wohnungen, sondern auch die umfassenden Unterstützungsdienste wie Gesundheitsversorgung und psychologische Betreuung abdecken. Corinna Müncho betont: „Wir können keine Wohnung weitervermitteln, wenn wir nicht sicherstellen können, dass wir die sehr intensive Betreuungsarbeit leisten können.“ Trotz der Erfolge von Housing First und seiner Bedeutung für das europäische Ziel bis 2030 steht der Ansatz in der Praxis also vor verschiedenen, vor allem finanziellen Herausforderungen. Dass das Thema durch die Bundesregierung erstmals professionell angegangen wird, sieht Corinna Müncho positiv. Aber: „Housing First wird prominent im Nationalen Aktionsplan genannt. Es gibt jedoch noch keine klare Vorstellung davon, wie dieses Modell in den Städten so etabliert werden kann, dass es zahlenmäßig wirklich etwas bewirkt.“

 

Klar ist: Das europäische Ziel und der Nationale Aktionsplan sind erste Schritte zur Erfassung der Situation, Aufzeigen von Zuständigkeiten und möglichen Lösungen. Allein mit verstärkter Zusammenarbeit und nachhaltiger Finanzierung können nun die konkreten Maßnahmen auf- und ausgebaut und mehr Housing First Projekte umgesetzt werden.

 

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Michael Divé

Über den Autor

Michael Divé

Michael Divé ist Teamleiter Kommunikation und Pressesprecher der BUWOG in Deutschland.

Er leitet die Unternehmenskommunikation und die digitalen Kanäle der BUWOG in Deutschland und moderiert den Podcast GLÜCKLICH WOHNEN. Nach seinem Studium der Medienwirtschaft an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden und Toulouse (Frankreich) war er als Journalist und Medienmanager für verschiedene Medien und Unternehmen tätig.