Die Zukunft der Erdgeschosse verspricht spannende Veränderungen – aber auch große Herausforderungen. Neue Nutzungskonzepte, innovative Raumgestaltung und nachhaltige Verkehrslösungen prägen maßgeblich die Entwicklung unserer urbanen Umgebungen. Für das Erdgeschoss gilt das ganz besonders. Welche Perspektiven gibt es für die Gestaltung dieser Etagen? Wir sprechen Dr. Joseph Frechen vom Beratungsunternehmen bulwiengesa.
In der Stadtentwicklung spielt das Erdgeschoss eine immer zentralere Rolle. Lange Zeit oft vernachlässigt oder auf eine rein kommerzielle Nutzung beschränkt, erfahren Erdgeschosse heute einen Wandel. Klassische Belegung mit kleinteiligem Einzelhandel ist schwierig, denn der Konsum verlagert sich – nicht erst seit Corona – in Richtung Onlinehandel.
Das Erdgeschoss als Herzstück urbanen Lebens
Klar ist: „Erdgeschosse sind weit mehr als nur der Eingang zu unseren Gebäuden und Geschäften. Sie sind oftmals das Herzstück des urbanen Lebens, ein Ort für soziale Interaktion und wirtschaftliche Aktivität“, so Dr. Joseph Frechen, der als Niederlassungsleiter Hamburg und Bereichsleiter Einzelhandel bei bulwiengesa maßgeblich für die Analyse und Bewertung von Shoppingcentern sowie Einzelhandelsobjekten verantwortlich ist. Als Mitautor der Studie „Erdgeschoss 5.0“ spricht er im Podcast über die Erfolgsfaktoren, wie auch zukünftig Erdgeschosse zentraler Bestandteil von Quartieren sein können.
Erdgeschosse stehen vor vielfältigen Herausforderungen. Hohe Mietpreise und strenge Bauvorschriften erschweren die flexible Nutzung oder Umnutzung dieser Flächen. Zur Realität gehört auch, dass viele Erdgeschosse in Städten und Gemeinden durch Leerstand gekennzeichnet sind. Zusätzlich erfordern die Anpassung an moderne Infrastrukturanforderungen und die Implementierung nachhaltiger Lösungen erhebliche Investitionen.
Das Analyseunternehmen bulwiengesa hat sich bereits im Jahr 2019 zusammen mit der Bundesstiftung Baukultur und den Projektentwicklern ehret+klein, HAMBURG TEAM und INTERBODEN in der Studie „Erdgeschosse 4.0“ intensiv mit dem Zusammenspiel von Errichtung und Betrieb, der möglichen Quersubventionierung, der Bauträger-Kalkulation und planerischen Optionen von Erdgeschossen beschäftigt.
Das neueste Update dieser vielbeachteten Studie beleuchtet nun fünf Dimensionen: Soziologie, Ökonomie, Verkehr und Funktion sowie Raum. „Welche Vitalität benötigt die Erdgeschosszone innerhalb eines Gebäudes – weil es sich nicht überall zum Wohnen anbietet? Gleichzeitig aber auch schon erkennbar wurde, dass sämtliche gewerbliche Nutzung nicht überall funktioniert“, erklärt Dr. Joseph Frechen die weiter bestehende Relevanz des Themas.
„Erdgeschosse sollten etwas bieten“
Im Bereich Soziologie spiegeln Erdgeschosse das soziale Milieu eines Quartiers wider. Für eine erfolgreiche Zusammenstellung der Erdgeschossnutzungen ist die Analyse von Bewohnerschaft und Frequenz von zentraler Bedeutung. Demografische Veränderungen beeinflussen z. B. die Nutzung von Erdgeschossen, beispielsweise besuchen jüngere Menschen seltener den stationären Einzelhandel, so der Experte. Sein Rat: „Erdgeschosse sollten etwas bieten, was den Bedürfnissen der Anwohnenden entspricht“. Es sei dabei entscheidend, auf demografische und soziale Veränderungen zu reagieren. Das kann bedeuten: Weniger traditioneller Einzelhandel, stattdessen neue Gastronomie, haushaltsnahe Dienstleistungen oder gemeinnützigen Angeboten.
Eine Ausnahme beim Handel stellen die Nahversorger dar, die in den letzten 30 Jahre gerne auf der grünen Wiese außerhalb der Städte errichtet wurden. „Die Nahversorger kommen immer mehr zurück“, so Dr. Frechen – ein wichtiger Beitrag im Sinne kurzer Wege und zur Vermeidung von pendelbedingten CO2-Emissionen.
„Mixed-Use“ für vitale Erdgeschosse
Vitale Erdgeschosse sind Schlüssel für die Belebung von Stadtvierteln. Was aber tun, wenn das Erdgeschoss umgebaut oder umgenutzt werden muss? Die Revitalisierung von Erdgeschossen hängt zunehmend von einer intelligenten Umgestaltung des bestehenden Gebäudebestands, der innerstädtischen Verkehrsinfrastruktur und der Integration von Naturerlebnisräumen ab. Städtebauliche Resilienz erfordert daher eine flexibel nutzbare und anpassungsfähige Architektur, die sowohl ästhetisch ansprechend als auch ökonomisch tragbar ist und ein angenehmes Klima bietet. Ein breites Nutzungsspektrum macht Erdgeschosse krisenfester und lebendiger. Dabei bieten „Mixed-Use-Objekte“ die Chance sich zunehmend vielfältigeren Nutzungsstrukturen anzupassen. „Große Flächen jenseits der 500 Quadratmeter Verkaufsfläche im Einzelhandel werden immer seltener nachgefragt“, berichtet Dr. Joseph Frechen. Die Tiefe der Flächen kann nicht mehr ausgeschöpft werden. Es braucht also regional passende und individuelle Nutzungskonzepte für die Erdgeschosse. Bei großen Einkaufszentren muss das komplette Gebäude in das Konzept integriert werden. Mögliche Ideen zur Nutzung gehen dabei von Coworking-Space bis zu Räumen für die Volkshochschule. In Bürogebäuden können die Erdgeschosse an die Bedürfnisse der Mitarbeitenden besser angepasst werden, ein Schlagwort sind „End-of-trip facilities“. Diese können im Erdgeschoss vorhandene Duschen und Umkleideräume für Mitarbeiter:innen umfassen, die mit dem Fahrrad ihren Arbeitsweg zurücklegen, aber auch ein Café für das Heißgetränk zum Mitnehmen ins Büro sein.
Zukunft Erdgeschoss-Wohnen
Auch das Wohnen kann eine Perspektive für die Erdgeschosse darstellen. Zugegebenermaßen stellt das Erdgeschoss aber nicht unbedingt die beliebteste Wohnlage dar. Perspektiven für attraktives Erdgeschosswohnen brachte insbesondere die Bundesstiftung Baukultur in die Studie Erdgeschosse 5.0 mit ein. Besonders die vorgelagerten Zonen von Erdgeschossen verdienen besondere Aufmerksamkeit. Erdgeschoss-Wohnungen könnten durch kleine Vorgärten wieder attraktiv gestaltet werden, so der Tenor. „Wenn ich diese Zone entsprechend begrüne, habe ich einen Abstandsraum zum Gehweg und bekomme Kühle in den Straßenraum herein“, erklärt Dr. Joseph Frechen.
Klar ist: Erdgeschosse und die Bereiche vor den Gebäuden verbinden das Innen und das Außen. Diese „Gesichter der Stadt“ verdienen also besondere Beachtung.
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